Es waren keine erfreulichen Nachrichten, die der Arzt für Madeleine Streiff (55) hatte: Zwei Wirbel sind versteift, eine Operation ist nötig. Das bedeutete für die Glarnerin nicht nur eine gesundheitliche Herausforderung, sondern auch eine logistische: Sie hatte drei Katzen zu Hause, die während des einwöchigen Spitalaufenthalts auf sich allein gestellt gewesen wären. «Da ist mir Kiss wieder eingefallen», erzählt sie.
Kiss, das hat nichts mit Küssen zu tun, sondern ist eine Abkürzung für «Keep it small and simple» (zu Deutsch: Halte es klein und einfach). Dahinter versteckt sich eine neuartige Form der Nachbarschaftshilfe: Freiwillige helfen anderen Menschen und kriegen für ihren Einsatz Zeit gutgeschrieben, die sie wiederum in Form von Hilfeleistungen einfordern können. Dieses Modell ist auch bekannt als Zeitnachweis oder vierte Säule. Denn wie bei der AHV, der Pensionskasse und der dritten Säule sparen die Leute in jüngeren Jahren fürs Alter – nur eben Zeit statt Geld.
Die Menschen werden immer älter, die Familien haben immer weniger Zeit, die Betreuung ihrer Angehörigen selbst zu übernehmen, die Alterskosten steigen. Zeitnachweis soll helfen, weil sie es älteren Menschen ermöglicht, länger im eigenen Zuhause zu bleiben. Diese Idee hatte vor über zehn Jahren auch der damalige Bundesrat Pascal Couchepin (76).
Studien aus Deutschland und Österreich haben diesen Effekt der Zeitnachweis bereits nachgewiesen. Das Schweizer Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) hat, basierend auf diesen Studien, die Kiss-Genossenschaften im Kanton Obwalden sowie in der Stadt Luzern untersucht. Fazit: Die beteiligten Gemeinden können über einen Zeitraum von elf Jahren 1,9 Millionen Franken an Alterskosten sparen, die beiden beteiligten Kantone 1,5 Millionen, der Bund 1,1 Millionen.
Alter steht meist im Vordergrund
Die meisten der insgesamt elf Kiss-Genossenschaften legen denn auch den Fokus auf die Unterstützung älterer Menschen. Die seit eineinhalb Jahren bestehende Genossenschaft in Glarus hingegen hat sich bewusst für die generationenübergreifende Variante entschieden. So gibt es dort auch Menschen mit Behinderungen, psychischen Problemen oder etwa Mütter, die vorübergehend das Bett hüten müssen.
Auch Rückenpatientin Madeleine Streiff, die sich plötzlich in einer unvorhergesehenen Situation befand, erhält bei Kiss Glarus deshalb Hilfe. In ihrem Fall fand sich diese in Marianne Gantner. Die 74-Jährige hat selber schon drei Rückenoperationen hinter sich. Doch es ist nicht das, was sie zur idealen Helferin für Streiff machte. «Ich bin sehr tierlieb, habe selber Katzen und einen Hund», erzählt sie. «Darum weiss ich auch, dass es nicht reicht, einfach etwas Futter hinzustellen.» So habe sie während Streiffs Spitalaufenthalt den Katzen nach dem Füttern immer noch eine Weile Gesellschaft geleistet.
Streiff und Gantner scheinen auf den ersten Blick wie ein ungewöhnliches Gespann: Hier hilft die ältere der jüngeren Person. «Das könnte man meinen, aber das kommt bei uns tatsächlich öfter vor», erzählt Monika Waldvogel-Zweifel (45), Co-Leiterin von Kiss Glarus. Über solche Zweiergespanne freue sie sich besonders. «Aus der Sozialforschung weiss man nämlich, dass viele ältere Menschen darunter leiden, nicht mehr gebraucht zu werden und scheinbar keinen Nutzen für die Gesellschaft mehr zu haben.» Das sei für sie auch das Schöne an Kiss:
Jeder könne nach seinen Stärken helfen und müsse nur so viel leisten, wie er möchte. «Freiwilligenarbeit soll Freude machen – und so tut sie es.»
Kritiker sagen, Zeitnachweis sei gar keine richtige Freiwilligenarbeit, weil man etwas dafür erhalte. Kiss beauftragte die ETH Zürich und die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), diese Frage zu untersuchen. Das Fazit: Die Motive der Kissianer – so bezeichnen sich die Vorsorger – unterscheiden sich nicht von jenen klassischer Freiwilliger. Gleichzeitig hält die Studie aber fest, dass der Vorsorgeaspekt für die meisten Mitglieder durchaus wichtig sei.
Eine Garantie, dass die Zeit im Alter wirklich eingezogen werden kann, gibt es allerdings nicht. Das System funktioniert nur, wenn sich weiterhin Freiwillige finden. In St. Gallen hat die Stadt selber ein Zeitnachweis-System eingerichtet – mit einer Garantie von 3,4 Millionen Franken. Damit könnten bezahlte Helfer die Leistungen erbringen, wenn keine Freiwilligen mehr da wären. Verblüffend: Die Garantie ist für die Mitglieder nicht zentral. Das zeigt eine begleitende Studie. «Ich bin sicher, dass Kiss auch in der Zukunft Bestand hat», sagt auch Streiff. Das zeige schon das stetige Wachstum. Die 2016 gegründete Glarner Gruppe zählt mittlerweile rund 240 Kissianer. Schweizweit sind es über 1200.
Mehrfach engagiert
Die ETH/FHNW-Studie zeigt, dass Kiss viele Leute zur Hilfeleistung motivieren konnte, die davor nicht freiwillig tätig waren. Trotzdem – so ein weiteres Resultat – engagieren sich viele Kissianer auch in anderen Organisationen karitativ – auch Gantner. Sie helfe vielen Menschen, auch wenn sie keine Kissianer seien, gehe etwa mit einem fremden Hund Gassi. «Aber die Einsätze für Kiss sind einfach dankbarer», findet sie. «Nicht einmal, weil ich dafür Zeit gutgeschrieben bekomme, sondern weil die Menschen hier dankbarer sind.»
Deshalb werbe sie in ihrem Bekanntenkreis fleissig für die Organisation. «Aber viele sind skeptisch oder sagen, dafür hätten sie Freunde. Aber ob die dann wirklich für einen da sind, wenn man sie braucht?» Auch Rückenpatientin Streiff rührt in ihrem Bekanntenkreis die Werbetrommel: «Ich finde, es dürften sich ruhig noch mehr Leute in meinem Alter melden. Etwas Besseres als Kiss gibt es wirklich nicht: Man erhält kostenlos Hilfe und die Freiwilligen gehen auch nicht leer aus.»
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Text: Julia Gohl
Foto: Christoph Kaminski
Veröffentlicht: Montag 06.08.2018, 09:00 Uhr